Auf Spurensuche: Künstlerinnen in Montparnasse

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Friedhof Montparnasse – am Grab von Agnès Varda

Création, inspiration et partage war das Motto der großen Filmemacherin und Fotografin Agnès Varda: Kreation, Inspiration und Teilen. Inspiriert war sie bis zu ihrem Tod im März diesen Jahres, die „Großmutter der Nouvelle Vague“, wie sie auch genannt wurde (sie selbst sah sich eher als Visual-Art-Künstlerin). Agnès Varda war eine der Schlüsselfiguren des modernen Films und erhielt 2017 den Ehrenoscar für ihr Lebenswerk. Im Februar war sie noch auf der Berlinale und Ende März ist sie, 90-jährig, für immer gegangen. 

Ich sitze auf der hübschen Bank an ihrem Grab mit Anne. Es ist schön ruhig hier, bis auf den Herbstwind, der über die Ruhestätten so bekannter Persönlichkeiten wie Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre, James Joyce, Marguerite Duras und Ernest Hemingway weht und die beiden wunderbaren Skulpturen von Niki de Saint Phalle streift. Ein kleiner historischer Moment: Das Grab von Jacques Chirac wird gerade beschriftet, ein paar Friedhofsbesucher bleiben ehrfurchtsvoll davor stehen.

Der Straßenlärm ist in diesem berühmten Friedhof kaum wahrzunehmen. Anne Schmidt lebt seit 35 Jahren im Viertel Montparnasse, hat an der Sorbonne Nouvelle über Le miroir de l´autre – Théatre de Femmes et Migration (Der Spiegel der anderen – Theater der Frauen und Migration) promoviert und bietet in Paris Führungen über Künstlerinnen und Frauen aus Wissenschaft und Kultur an, die auch auf einem Blog veröffentlicht werden.

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Kommunalpolitikerinnen und eine Archäologin auf den Spuren berühmter Frauen in Paris

Anne kennt jeden Winkel in diesem Stadtbezirk um den Tour Montparnasse. Auf dem Bänkchen saß auch Agnès Varda noch Anfang des Jahres und hielt Zwiesprache mit ihrem Mann, dem Filmemacher Jacques Demy, mit dem sie nun hier ruht. Für einen kurzen Augenblick ist mir, als hätte uns nicht Hélène, die pensionierte Deutschlehrerin, fotografiert, sondern Agnès mit einem kleinen Augenzwinkern in ihrem lila Kleid, das sie auch auf der Berlinale trug. Lila war überhaupt ihre Farbe: sogar der Baum, unter dem wir sitzen, meint Anne, blühe im Frühjahr in ihrer Lieblingsfarbe. Ins Auge sticht auch ihr zartlila gestrichenes Haus am Anfang der Rue Daguerre, nur wenige Minuten von hier entfernt, in dem sie gewohnt und gearbeitet hat. Auch die unterschiedlichen Kartoffeln auf ihrem Grab haben mit ihrem Werk und ihren Vorlieben zu tun. In dem Film „Les Glaneurs et la Glaneuse« („Die Sammler und die Sammlerin“) erklärt Varda das Suchen und Aufbewahren zum menschlichen Urtrieb. Bauern und Bäuerinnen auf dem Feld, Arbeiter in den Obstplantagen oder Schriftstellerinnen, die Geschichten sammeln – sie alle waren wie ihr Alter Ego. „Nach dem Dreh interessierte mich besonders die Transformation: Ich hatte viele Kartoffeln gefilmt und das Glück, Kartoffeln in Herzform zu finden. Ich habe sie aufbewahrt und ihre Verwandlung hat mich fasziniert: erst ein spektakuläres Altern, dann neue Keime und Sprossen. Sie sind wunderbar, sie atmen“. Stichwort Transformation: Ich muss an Filme wie „Sans Toi ni Loi“ („Vogelfrei“) aus den 80er Jahren mit Sandrine Bonnaire denken, oder ihren vorletzten Film, einem Roadmovie „Visage, Villages“ („Gesichter einer Reise“) mit dem Streetart-Künstler JR, für den sie 2018 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ erhielt.

Agnes et Alice Guy
29.März 2019: Treffen zwischen der ersten und der bekanntesten französischen Filmemacherin (Victor Vergara Ortiz, Annes Ehemann)

Etwas versteckt liegt hinter dem Bahnhof Montparnasse die Villa Vassilieff, eine begrünte Sackgasse mit Hinterhofcharme, die die russische Malerin und Bildhauerin Marie Vassilieff 1911 bezog. Sie war Schülerin von Henri Matisse und gründete in der Avenue du Maine 21 ein Atelier und eine Künstlerakademie. Die ganz Großen der späteren Avantgarde wie Picasso, Modigliani, Léger oder Chagall begannen hier zu malen, sie selbst gehörte auch zu ihnen, wenn auch heute ihr Name weit weniger bekannt ist. Verarmte Künstlerinnen und Künstler konnten bei Marie umsonst essen. Der Ort geriet dann in Vergessenheit, wurde ein wenig beachtetes Museum, bis er nun wieder ein Treffpunkt der modernen Kunst und des Austauschs geworden ist: mit aktuellen Ausstellungen, einem Café und der Pernod Ricard Fellowship, einer Stiftung für Nachwuchskünstlerinnen und – künstler auf internationaler Ebene.

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Villa Vassilief – Ausstellung Patricia Belli

Sehenswert ist die aktuelle Ausstellung von Patricia Belli aus Nicaragua, deren Installationen die Instabilität und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens reflektieren. Ich setze mich auf eine Schaukel, die im Raum hängt und schaue mich in der schönen Galerie um. Der Oloid auf dem Boden darf bewegt und neu platziert werden. Kunst darf hier nicht nur berühren, sondern auch berührt werden. Und: Patricia Belli war es immer auch ein Anliegen, „den männlich dominierten Blick in der Kunst und somit auf den Körper als soziales und sexuelles Objekt zu hinterfragen“. Nährende Milch (oder Ausbeutung der Milchkühe?) soll die Stoffbahn mit euterähnlichen Ausbuchtungen, die von der Decke hängt, symbolisieren. In Nicaragua hat Patricia Belli 2001 ein „pädagogisches Laboratorium“ gegründet, das EspIRA. Hier wird recherchiert und experimentiert, abseits künstlerischer Konventionen. EspIRA hat in der Zwischenzeit auch internationale Unterstützung gefunden und die jungen Künstlerinnen und Künstler der Organistation engagieren sich auch in pädagogischen Projekten.

Ein paar Straßen weiter, in der Rue de Fleurus, eine Parallelstraße der Rue de Rennes, wohnte einst Gertrude Stein, eine der einflussreichsten Amerikanerinnen von Paris. Die Kunstliebhaberin Stein eröffnete einen Salon, in dem sich die Maler und Schriftsteller der Epoche trafen. Zu ihren Abenden versammelte die Mäzenin namhafte Vertreter der Avantgarde wie Apollinaire, Hemingway, Picasso, Matisse und Braque. Gertrude Stein selbst schrieb Bühnenstücke, Gedichte, Kurzgeschichten und entwickelte neue Stilformen („Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“). Die Amerikanerin übte großen Einfluss auf Künstler wie Hemingway aus und prägte so die Kunst der Epoche mit.

Ein Besuch in Montparnasse lohnt sich, auch wenn es sicher von seinem früheren Charme eingebüßt hat. Wer einen einzigartigen Blick über Paris haben möchte, muss nicht zwei Stunden am Eiffelturm anstehen: der Tour de Montparnasse ist mit seinen 59 Etagen das zweithöchste Gebäude der Umgebung und damit auch einer der höchsten Wolkenkratzer Europas. Ich selbst war nicht oben, dafür habe ich ihn aus dem 6.Stock von Annes schöner Dachterrasse ins Visier genommen. Sous le ciel de Paris s´envole une chanson von Edtith Piaf kommt mir in den Sinn: Unter dem Pariser Himmel zieht (mit dem Wind vom Atlantik) auch ein Lied dahin….

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Tipps zum Essengehen: Zwischen der Metro Montparnasse und der Metro Plaisance (Rue Raymond Losserand) gibt es viele kleine Restaurants mit Köstlichkeiten aus dem arabischen, nordafrikanischen und asiatischen Raum. Ein Mittagstisch ist in Frankreich (und auch in Paris!) günstig für 10 bis 15 Euro inkl. Vorspeise und Getränk zu haben. Und in der Rue Denfert Rocherau 74, unweit der Katakomben, gibt es in dem inklusiven Projekt bei Les Grands Voisins auf dem riesigen Areal eines alten Kinderkrankenhauses auch leckere vegetarische Gerichte. Hier entsteht mit mehr als 200 Vereinen, Start-ups und Kulturschaffenden ein Stadtprojekt der Zukunft.

Les Grands Voisins
Bericht in der écoute 12/2019 über einen derzeit angesagten kulturellen Treffpunkt: Les Grands Voisins im 14. Arrondissement

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