Nomen est omen

1.Preis beim Schreibwettbewerb „Rottenburg zwischen Tradition und Transformation“

Wir schreiben das Jahr 2124. Pia, die neue Landesbischöfin, genehmigt sich einen kräftigen Schluck des vorzüglichen Neckartalrosés, den sie von Minerva, einer ihrer Priesterinnen, zur Investitur geschenkt bekommen hat. Minerva, auch ihre Kommunikationsmanagerin, hat dem Weinbau an den Hängen des Weggentals dank der mediterranen Temperaturen und innovativer Winzerkunst zu neuer Blüte verholfen. In vino veritas prostet sie sich lächelnd zu und denkt dabei an ihre römischen Schwestern und Brüder, die die Reben schon vor über 2000 Jahren kultiviert haben.

Dann schweifen ihre Gedanken ab zur urbs pia, die nicht von den Römern, sondern vielmehr als Marketingstrategie für die Kleinstadt am Neckar vor hundert Jahren entworfen worden ist: von der Stadt und der katholischen Kirche. Nomen est Omen, denkt sie sich, das Konzept hat sich in eine innovative Richtung entwickelt, nun haben sie mich, Landesbischöfin Pia.

Doch wie kam es dazu? Vor einhundert Jahren, so ist es dokumentiert, erhitzten sich die Gemüter der Menschen an der Tatsache, dass nicht die alten Römer, nicht die Jahrhunderte dauernde Zugehörigkeit zu Vorderösterreich, nicht Gertrud von Hohenberg, die spätere Stammmutter der Habsburger, und nicht Mechthild von der Pfalz, die hochgebildete Adelige mit ihrem Musenhof für die Stadt Rottenburg das Werbebanner halten sollten, sondern eine urbs pia, eine fromme Stadt: Rottenburg als Pilger- und Bischofsstadt. Die Stunde von Maria 2.0 war gekommen. Was wollen wir mehr? sagten sich die Sympathisantinnen des weiblich geprägten katholischen Netzwerks, einer Initiative gegen das klerikale Patriarchat. Und sie witterten ihre Stunde: Pia, die Fromme, Pia 2.0 sollte von nun an das Ziel ihrer Bestrebungen sein: den Muff unter den Talaren endgültig ablegen, in die Zukunft blicken, Nomen est Omen, so war das Motto, das sich in Windesweile verbreiten sollte.

Zu jener Zeit allerdings war die Künstliche Intelligenz, kurz KI, wie sie damals hieß, noch in den Kinderschuhen. Es war noch nicht die Zeit für Avatarinnen, die ein neues Mindset für die Menschheit anbieten konnten. Aber es war ein Anfang: Die Frauen wollten den Weg ebnen für eine Bischöfin, das war die Vision. Und so kontaktierten sie die besten Programmiererinnen des Landes, die sich alsbald ans Werk machten, um eine erste Version von Pia zu konzipieren. Ihr Gehirn wurde mit einer umfassenden Datenbank unter dem Motto sapientia et scientia, Weisheit und Wissen, ausgestattet und im Laufe der Jahrzehnte, nach diversen Updates und Korrekturen, reifte Pia zu einer Avatarin heran, die es in sich hatte. Die Aktivistinnen ließen Pia auf sämtlichen weltweit verfügbaren Social Media Kanälen viral gehen, und die Zahl ihrer Followerinnen ging in die Millionen. Allmählich entwickelte sich das neue humanoide Wesen zu einem neuen Menschen. Und es verschwammen die Grenzen zwischen dem, was damals als Realität galt und der neuen Virtualität: Pia, die neue Fromme war geboren und verbreitete das Wissen von sapienta et scientia in rasantem Tempo. Es war die Jungfrauengeburt des 22.Jahrhunderts.

Landesbischöfin Pia schaut gedankenverloren auf ihre smart watch am rechten Ringfinger. Gleich hat sie einen virtual call zu ihren Schwestern von Maria 2.0, die vor einhundert Jahren damit begannen, ihrer Avatarin Leben einzuhauchen. Dank der neuen Technologien ist es nun auch möglich, mit der Vergangenheit Kontakt aufzunehmen. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit können in einen Augenblick verschmelzen.

Bling, macht es auf ihrer smart watch. Als die Vertreterinnen von Maria 2.0. erscheinen, schaltet sich plötzlich Christine de Pizan, französische Schriftstellerin und Philosophin aus dem 15.Jahrhundert dazu. Sie möchte Pia zu ihrem neuen Amt gratulieren. Ma chère Pia, meine wertesten Damen, sagt sie, schon 1405 schrieb ich in der „Le livre de la Cité des Dames“, dem Buch von der Stadt der Frauen:Nimm die Spitzhacke deines Verstandes, grabe tief. Die Natur hat die Frauen mit ebenso vielen körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet wie die weisesten und erfahrendsten Männer“.

Schwäbisches Tagblatt, 14.September 2024

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